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Stubborn Sweetness

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Inhalt: Als Julie ihren Frust mit einem Kaffee wegspülen will, trifft sie zu ihrem Glück auf Professor Platan - und mit ihrem gesammelten Mut versucht sie, sich einen neuen Weg zu bahnen.

Zeitpunkt: Julie ist gerade 16. Komplett anzeigen

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#01: Ich würde die Geschichte wirklich gern zu Ende hören.


 

Julie starrte auf das Gebäude, unfähig, sich zu bewegen. Das wievielte Mal war das nun schon? Sie war seit drei Tagen in Illumina City, also mindestens drei Mal.

Und langsam verlor sie selbst die Geduld mit sich. Wenn sie wenigstens einen Schritt täte dann wäre der Rest mit Sicherheit ein Kinderspiel; einmal in Bewegung wäre sie nicht mehr aufzuhalten gewesen.

Aber sie konnte einfach nicht. Das Gebäude ragte wie eine unüberwindbare Hürde vor ihr in die Höhe, forderte sie heraus und hielt sie gleichzeitig fern. All die Personen in weißen Kitteln, die sie hineingehen und herauskommen sah, gaben ihr noch dazu den Rest.

Sie fand ihre Fähigkeit zu Bewegungen wieder und fuhr mit einem gequälten Stöhnen herum, damit sie das alles nicht mehr mitansehen musste. Was dachte sie sich hier eigentlich? Als ob sie mit irgendeinem dieser Leute mithalten könnte. Bestimmt gab es genug andere Personen, die bereits darauf warteten, in Professor Platans Labor arbeiten zu dürfen. Brillante, großartige Menschen, die nicht sie waren.

Nachdem sie sich wieder derart selbst entmutigt hatte, betrat sie das Café gegenüber des Labors, wo eine hübsche blonde Kellnerin mit himmelblauen Augen (als wollte sie heute alles fertigmachen) sie direkt mit einem sanften Lächeln begrüßte. Julie bestellte sich einen Kaffee, dann setzte sie sich an einen freien Tisch, legte ihre Bewerbungsunterlagen ab und sank mit dem Oberkörper auf diese.

Leise murmelnd bedauerte sie sich selbst, nutzte diesen Zeitpunkt der Schwäche, ehe ihr Zorn wieder übernehmen und sie vorstürmen lassen würde. Wohin auch immer, denn sie glaubte nicht, dass sie voller Ärger ins Labor stürzen könnte. Welchen Eindruck erweckte das denn? Glücklicherweise war sie in den letzten sechs Jahren ein wenig mehr gereift und konnte ihre Wutanfälle und die daraus resultierenden Aktionen nun besser kontrollieren.

»Es ist ohnehin sinnlos«, murmelte sie. »Er wird sich bestimmt nicht an mich erinnern. Das war vor sechs Jahren und ich war nur irgendein kleines verzweifeltes Mädchen.«

Das Gespräch vor dem Prismaturm war bestimmt nur für sie wichtig gewesen, für ihn war es wahrscheinlich nur ein weiterer Dienstag, eine Trainerin von vielen, die er schon aufgemuntert hatte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte jemand neben ihr.

Julie setzte sich sofort wieder aufrecht hin und erwiderte den besorgten Blick der Kellnerin. »Ja, es geht schon. Ich bin gerade nur … von mir selbst enttäuscht.«

Mit einem verständnisvollen Laut stellte sie die Tasse mit dem köstlich duftenden Kaffee vor Julie ab. Allein dieser Geruch wirkte schon heilsam für sie.

»Wenn Sie Glück haben«, sagte die Kellnerin, während sie ihren Pferdeschwanz mit einer lässigen Handbewegung hinter ihre Schulter strich, »kommt der Professor heute vorbei und erzählt eine Geschichte. Er war schon eine Weile nicht mehr hier, also wird es mal wieder Zeit.«

Der Mann am Nebentisch stöhnte genervt. »Hoffentlich nicht. Ich war sehr dankbar, dass er die letzten Tage mal nicht hier war und keine Geschichten erzählt hat.«

Ein paar andere Gäste, die das mitbekommen hatten, nickten zustimmend und ernteten dafür finstere Blicke von der Kellnerin. Als sie sich Julie zuwandte, lächelte sie wieder. »Warten wir es einfach ab. Genießen Sie erst einmal Ihren Kaffee.«

Julie bedankte sich leise. Die Kellnerin zwinkerte ihr zu und ging dann mit wippendem Pferdeschwanz davon, um jemand anderem die verlangte Rechnung zu bringen.

Vielleicht sollte Julie es auch mit kellnern versuchen. Sie müsste nur ihre Schüchternheit überwinden. Und weiter daran arbeiten, sich nicht mehr so schnell aufzuregen. Laut ihrer Mutter wäre das aber unmöglich, also …

Statt weiter darüber nachzudenken, nahm sie einen Schluck Kaffee. Der Geschmack kombinierte sich mit dem Duft und linderte ihre Sorgen noch ein wenig mehr. Er schmeckte wesentlich besser als jener, den sie normalerweise selbst kochte, um Geld zu sparen. Aber heute brauchte sie diesen Kaffee einfach.

Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht Schicksal gewesen, dass sie gerade an diesem Tag das Café aufgesucht hatte, denn während sie einen weiteren Schluck nahm, wurde die Tür geöffnet – begleitet von einem kurzen Glockenspiel – und im nächsten Moment erklang die begeisterte Stimme der Kellnerin: »Herzlich willkommen, Professor Platan~. Wie schön, dass Sie wieder hier sind~.«

Der Mann am Nebentisch stöhnte noch einmal. Julie dagegen starrte in ihre Tasse. Sie wollte nicht den Kopf heben, möglicherweise ihren Blick mit dem des Professors kreuzen – nur um dann enttäuscht zu sein, wenn er sie nicht mehr erkannte.

»Ich muss zugeben, dass ich diesem Café ein wenig untreu war«, sagte der Professor. »Aber heute konnte ich der Sehnsucht nicht mehr widerstehen.«

Etwas an seiner Stimme war anders. In den letzten Jahren hatte Julie sich so oft an ihr Gespräch mit ihm zurückerinnert, sich jeden einzelnen Satz wieder vorgestellt. Wann immer sie hatte aufgeben wollen, war da wieder seine fröhliche Stimme voller Optimismus in ihrem Ohr gewesen, mit der er ihr eröffnete, ihr eines Tages die Geschichte über die Sternschnuppen-Pokémon erzählen zu wollen.

Aber das gerade eben klang ganz anders.

Julie hob den Blick und sah zu ihm hinüber. Im Prinzip sah Professor Platan aus wie damals, schlank, groß gewachsen, gekleidet in seinen Laborkittel, perfekt frisierte schwarze Haare – aber seine Augen glitzerten nicht. Damals hatten sie geradewegs vor Lebensfreude gesprüht, heute wirkten sie stumpf, desillusioniert … einfach traurig.

Julies Herz wurde ein wenig schwer. Was war geschehen, um diesen Mann derart zu brechen? Sollte sie sich ihm in dieser Situation überhaupt nähern? Vielleicht war das endlich das Zeichen, das sie zum Umdenken bringen sollte, damit sie sich endlich einen neuen Lebenstraum suchte.

Sie folgte ihm mit den Augen, als er sich durch den Raum bewegte und sich an einen Tisch setzte. Die Kellnerin begleitete ihn dabei und sprach unablässig auf ihn ein, erzählte ihm, wie sehr sie sich freute, ihn wiederzusehen und wie sehr sie hoffte, heute wieder eine Geschichte von ihm zu hören. Er zeigte darauf nur den Hauch eines Lächelns, gab seine Bestellung auf und sah dann schweigend auf den Tisch hinab, als die Kellnerin ging, um seinen Kaffee zu holen.

Der Mann an Julies Nebentisch atmete auf und trank seinen eigenen Kaffee weiter. Das genügte, um Julies Zorn zu wecken. Konnte dieser Mann nicht sehen, dass es dem Professor schlecht ging? Dass man ihn eigentlich darin ermutigen sollte, etwas zu erzählen, in der Hoffnung, dass es ihm dann wieder besser ginge? Am liebsten hätte sie ihn entsprechend angefaucht – aber ihre Selbstbeherrschung hielt sie davon ab. Genau wie die Furcht, einen besonders schlechten Eindruck auf den Professor zu hinterlassen. Dann könnte sie ihren Traum nämlich wirklich begraben.

Die Kellnerin kehrte mit dem Kaffee des Professors zurück und stellte die Tasse vor ihm ab. Dann sah sie ihn geradezu erwartungsvoll an. »Möchten Sie heute wieder etwas erzählen, Professor?«

Er erwiderte ihren Blick kurz erschrocken, dann sah er auf seinen Kaffee hinab. Was immer er dort sah – oder zu sehen glaubte –, brachte ihn wohl zum Lächeln. Sichtlich entspannt lehnte er sich zurück und schloss die Augen. »Sicher, warum nicht? Ich könnte eine Geschichte über ein diebisches Flauschling erzählen.«

Julie wurde sofort noch hellhöriger, der Mann am Nebentisch seufzte leise und trank einen großen Schluck Kaffee.

Der Professor ließ sich davon überhaupt nicht beirren, sondern begann zu erzählen: »Es gab einmal ein kleines Flauschling, das in der Nähe einer großen Stadt lebte. Jeden Tag wehte ein verführerischer, süßer Duft aus der Stadt in den Wald, in dem das Flauschling lebte. Deswegen wollte es unbedingt dorthin gehen, aber alle anderen Pokémon rieten ihm davon ab und betonten immer wieder, wie gefährlich die dort lebenden Menschen waren. Sie versklaven Pokémon, sagten sie ihm, es solle lieber seine Freiheit genießen. Das Flauschling gab sich große Mühe, der Versuchung zu widerstehen und ein normales Leben zu führen. Aber seine Sehnsucht nach diesem süßen Duft blieb.«

Je länger er erzählte, desto mehr erhellte sich langsam sein Gesicht, bis es fast wieder so wirkte wie damals. Nur seine Augen blieben stumpf. Bemerkte das niemand außer ihr? Oder hatte man sich einfach schon daran gewöhnt?

»Eines Tages, als der Duft besonders stark war, konnte das Flauschling nicht mehr widerstehen und folgte der Spur in die Stadt.«

Der Mann am Nebentisch legte einige Münzen auf den Tisch, dann stand er auf, rollte ein wenig zu übertrieben mit den Augen und strebte dann aus dem Café hinaus. Professor Platan folgte ihm kurz mit seinem Blick, dabei wirkte er wieder ein wenig niedergeschlagen.

Dennoch setzte er seine Geschichte nach einer kurzen Pause fort, er erzählte davon, wie geschockt das Flauschling war, als es in die Stadt kam, wie erschrocken von den hohen Häusern und den vielen Menschen und Fahrzeugen, die so viel Lärm erzeugten. Dazu noch die fremden Pokémon, die gehorsam neben oder hinter den Menschen herliefen. Aber über all dem war immer noch der süße Duft, der das Flauschling direkt zu einem ganz bestimmten Laden führte: einem Süßwarengeschäft.

Die Geschichte wurde kurzerhand unterbrochen, als einer der anderen Gäste laut nach der Kellnerin und der Rechnung verlangte. Einige weitere Personen murmelten unruhig und gaben ebenfalls zu verstehen, dass sie zahlen wollten. Die Kellnerin blickte alle finster an, ehe sie sich süßlich lächelnd dem Professor zuwandte: »Erzählen Sie ruhig weiter, ich bekomme das auch während der Arbeit mit. Ich möchte unbedingt wissen, was als nächstes geschieht.«

Dann huschte sie davon, um sich den anderen Gästen zuzuwenden. Der Professor sah ihr ein wenig betrübt hinterher, entschied sich dann aber wirklich dafür, einfach weiterzureden: »Das Flauschling beobachtete die Tür des Ladens so lange, bis es lernte, wie diese funktionierte – und schlich sich dann mit einigen menschlichen Kunden hinein. Inmitten dieses herrlichen Geruchs, umgeben von mehr Süßigkeiten als es jemals essen könnte, fühlte es sich wie im Paradies. Nicht einmal all die bedrohlich großen Menschen oder ihre versklavten Pokémon konnten seine Laune verschlechtern. Es gab nur eine Sache, die alles noch schöner machen könnte: Es musste die Süßigkeiten auch essen. Und so-«

Er unterbrach sich selbst, als mehrere der Gäste, die gerade gezahlt hatten, aufstanden und sich munter unterhaltend auf dem Weg zum Ausgang machten. Dort begegneten sie weiteren Personen, die aber sofort umdrehten, als sie den Professor sahen und das Café wieder verließen. Ihm entging das ebenfalls nicht. Seine Schultern sackten nach unten, als er auf seinen Kaffee hinabsah und entmutigt einen Schluck davon nahm.

Die Kellnerin, die ihn erst so sehr angespornt hatte, diese Geschichte zu erzählen, unterhielt sich gerade mit einem weiteren Gast, während sie diesen abrechnete und bemerkte dadurch seinen Schmerz nicht. Unverzeihlich!

Der Zorn erwachte wieder in Julie, aber diesmal gelang es ihr, ihn in konstruktive Bahnen zu lenken. Er gab ihr den Mut, aufzustehen und zu Professor Platan hinüberzugehen. Er sah nicht einmal auf, als sie neben ihm stand, wahrscheinlich ging er nicht davon aus, dass jemand wirklich mit ihm reden wollte. Dieser Anblick deckte sich überhaupt nicht mit ihrer Erinnerung und diesen Makel wollte sie beheben, entgegen ihrer Schüchternheit. Deswegen trommelte sie jedes Bisschen an Selbstsicherheit in sich zusammen und sprach ihn an: »Verzeihen Sie bitte, Professor …«

»Mhm?« Scheinbar nur widerwillig hob er den Blick und sah sie an.

Kaum konzentrierte er sich auf sie, schien eine Änderung in ihm vorzugehen. Seine Augen weiteten sich ein wenig und begannen wieder zu glitzern. Sie fragte sich, ob er sie erkannte, aber bevor er das ausdrücken konnte, fuhr sie bereits mit ihrem eigenen Thema fort: »Ich würde die Geschichte wirklich gern zu Ende hören. Macht es Ihnen etwas aus, sie weiterzuerzählen?«

»Natürlich, gern!«, rief er enthusiastisch aus und zeigte schon auf einen Stuhl an seinem Tisch. »Bitte setzen Sie sich.«

Das war eigentlich nicht Teil ihres Plans gewesen, aber es erschien ihr unhöflich, sich wieder auf ihren Platz zu setzen und ihm von dort aus weiter zuzuhören. Außerdem wären die anderen Gäste vielleicht auch zufrieden, wenn er etwas leiser weiterreden könnte, weil er die Erzählung auf sie konzentrierte. Deswegen bedeutete sie ihm, nur kurz zu warten, holte ihren Kaffee, sowie ihre Bewerbungsunterlagen, und setzte sich dann wirklich. Obwohl sie es nicht hundertprozentig sehen konnte, war sie davon überzeugt, dass er keine einzige Sekunde den Blick von ihr nahm.

Kaum saß sie, kehrte ihre Schüchternheit wieder zurück, besonders angesichts seines Lächelns. Vielleicht wollte sie es nur glauben, weil es ihr galt, aber sie war überzeugt, dass es nun aufrichtiger war als noch zuvor.

»Bevor ich fortfahre«, sagte er, »darf ich Ihren Namen erfahren?«

»Julie«, antwortete sie sofort.

Er schloss die Augen, ehe er langsam nickte. »Das ist ein schöner Name. Er passt zu Ihnen.«

Bei jedem anderen hätte sie darauf hingewiesen, dass das nur ein glücklicher Zufall war und ihre Eltern ihr diesen Namen ziemlich unüberlegt gegeben hatten. Aber den Professor endlich derart zufrieden zu sehen, entlockte ihr lediglich ein »Mh-hm«, um ihn nicht noch einmal zu deprimieren.

Schließlich öffnete er die Augen wieder und konzentrierte sich vollkommen auf sie. Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich sogar den Gedanken, dass es für ihn gerade wirklich nur sie gab – jedenfalls gab er ihr dieses Gefühl allein mit seinem Blick und seiner ganzen Körpersprache, die ihr nun zugewandt war.

»Nun, wo war ich gerade in der Geschichte?« Er dachte kurz nach. »Ach ja~. Das Flauschling stürzte sich gierig auf die verschiedenen Süßigkeiten. Knabberte hier am Karamell, probierte dort einige Bonbons, labte sich an der Schokolade und trank den Sirup, um seinen Durst zu stillen. Doch dieses Verhalten blieb natürlich nicht lange unentdeckt und so wurden bald Kunden und Angestellte des Ladens auf das Flauschling aufmerksam.«

Julie betrachtete Professor Platan eingehend, während er erzählte, wie das Pokémon fliehen musste, um nicht zu einem Sklaven der Menschen zu werden, wie es dachte. Er gestikulierte mit den Händen, während das Flauschling vor den Verkäufern floh, zeigte Anteilnahme, als das Pokémon fast von einem Hunduster erwischt wurde und seine Stimme überschlug sich beinahe vor Begeisterung bei der Erwähnung eines Altaria, das die Verfolger von dem armen Flauschling ablenkte.

Endlich wirkte er wieder genauso wie in ihrer Erinnerung, wie jener Mann, der sich die Zeit genommen hatte, ein ihm unbekanntes Mädchen mit seinem scheinbar unendlichen Optimismus aufzumuntern und ihm ein neues Lebensziel zu geben. Ob er sie erkannte? Sich an sie erinnerte? Das zu wissen würde es ihr leichter machen, ihn darauf noch anzusprechen. Aber für den Moment genügte ihr seine Erzählung, die sich langsam dem Ende näherte: »Und gerade als das Flauschling dachte, es gäbe keinen Ausweg mehr, beugte sich das Mädchen zu ihm runter und reichte ihm lächelnd ein Bonbon. Das Mädchen erklärte dem Flauschling, dass es seine Freundin werden wollte und sie noch viel mehr Süßigkeiten bei sich zu Hause hätte, die es ihm gern schenken würde.«

Er hielt kurz in seiner Erzählung inne, schloss die Augen und legte sich nachdenklich eine Hand an sein Kinn. »Kindern erzählt man immer, sie sollen nicht mit Fremden mitgehen, besonders nicht, wenn sie einem Süßigkeiten anbieten. Aber Sie können sich bestimmt denken, was das Flauschling getan hat.«

»Natürlich«, antwortete Julie. »Flauschlinge lieben Zucker über alles.«

Er nickte zufrieden. »Ganz recht. Deswegen ging das Flauschling auch arglos mit dem Mädchen mit. In ihrem Zuhause angekommen, aß das Flauschling nicht nur so viele Süßigkeiten wie möglich, sondern freundete sich auch mit seiner kleinen Retterin an. Und so beschloss es, obwohl es das ursprünglich nicht vorgehabt hatte, bei dem Mädchen in der Stadt zu bleiben. Es wurde nicht versklavt, wie ihm alle immer eingeredet hatten, sondern ein wertvoller Freund, der das Mädchen auch heute immer noch begleitet.«

Ob die Geschichte einen wahren Funken besaß? Es klang ganz danach, aber sie wollte ihn nicht fragen. Schon deswegen, weil er eine Hand auf sein Herz legte und seufzend fortfuhr: »Ergreifend, nicht wahr? So haben sich zwei neue Freunde gefunden.«

»Ich mag Geschichten, die gut ausgehen«, bekundete Julie. »Besonders, wenn ein Flauschling darin vorkommt.«

»Dann war diese Geschichte ja geradezu perfekt. Als wäre unsere Begegnung heute Schicksal gewesen.«

Der Professor zwinkerte ihr zu, was ihr Herz ein wenig schneller schlagen ließ. Das war … irritierend, also ging sie lieber nicht weiter darauf ein.

»Eigentlich wollte ich heute auch zu Ihnen«, sagte sie. »Nur aus diesem Grund bin ich überhaupt in diesem Café.«

Für eine Sekunde wirkte es so, als ob seine Augen noch mehr glitzern würden. Aber das musste sie sich einbilden, das ergab überhaupt keinen Sinn.

»Womit hätte ich Ihren Besuch verdient?«, hakte er nach.

Obwohl das Verlangen danach groß war, erzählte sie ihm nicht von ihrer Begegnung damals und dass er sie aufgefordert hatte, in seinem Labor vorbeizusehen, wenn sie irgendwann Forscherin werden wollte. Ihre Furcht vor einer Entschuldigung, weil er sich nicht daran erinnerte, und ihrer damit einhergehenden Enttäuschung war weiter zu groß. Daher sparte sie sich diesen Teil und reichte ihm ihre Bewerbungsunterlagen. »Ich wollte mich bei Ihnen als Assistentin bewerben. Aber ich habe mich nicht getraut.«

Für einen kurzen furchtbaren Moment befürchtete sie, er würde sie dafür auslachen. Doch stattdessen wirkte er überraschend interessiert. »Oh, wirklich?«

Er nahm ihre Unterlagen an sich und warf sofort einen Blick darauf. Während sie ihn dabei beobachtete, trank Julie noch einmal einen Schluck ihres inzwischen stark abgekühlten Kaffees. Er würde gleich entscheiden, ob er ihre Ausführungen zu seiner Forschungsarbeit – nur kleine Notizen zu Dingen, die ihr besonders ins Auge gestochen waren oder Fragen, bei denen sie den Eindruck hatte, keine klare Antwort in seiner Arbeit bekommen zu haben – als niedliche Spinnerei abtäte oder als wirklich ernstzunehmende Grundlage für die Forschungsassistenz. Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch, um nicht vor lauter Nervosität plötzlich mit dem Nagelknabbern anzufangen.

Hin und wieder gab der Professor ein zufriedenes »Ah« oder sogar ein überraschtes »Mhm« von sich. Das war genauso verunsichernd wie die Kellnerin, die am Tisch vorbeilief und Julie dabei einen finsteren Blick zuwarf. Plötzlich wirkte sie nicht mehr so nett wie zuvor.

Schließlich, als sie die Spannung kaum noch aushalten konnte, legte der Professor ihre Unterlagen auf dem Tisch ab, ruhte seine Unterarme darauf und sah Julie lächelnd an. »Das sind wirklich sehr interessante Anmerkungen zu meiner Arbeit. Ich wäre wirklich geehrt, wenn wir uns darüber noch ausführlicher unterhalten könnten.«

Ihre Laune sank augenblicklich in den Keller. Er tat sie zwar nicht als niedliche Spinnerei ab, aber das klang auch nicht danach, als würde er sie einstellen wollen. Es war eben, wie sie gedacht hatte: Es gab viele andere Menschen, die sich bestimmt eher dazu eigneten bei ihm zu arbeiten. Vielleicht waren ihre Gedanken im Endeffekt doch eher … kindlich, wie sie vor ihrem Aufbruch aus Aquarellia befürchtet hatte, im Endeffekt war sie ja auch erst 16. Wenn nur ihr Vater zuerst einen Blick darauf geworfen hätte, statt sich in seinem Arbeitszimmer einzuschließen und sich seinen eigenen Forschungen zu widmen …

Sollte sie sich für seine Zeit bedanken, dieses Angebot ablehnen und gehen, bevor es noch peinlicher wurde? Oder wäre das nur wieder eine Überreaktion gewesen?

Am sanften Lächeln des Professors änderte sich nichts, als er fortfuhr, ehe sie sich entscheiden konnte: »Am leichtesten kämen diese Unterhaltungen natürlich zustande, wenn du – ich darf dich doch duzen, oder? – zustimmen würdest, meine Assistentin zu werden.«

Julies Augen weiteten sich. Hatte sie das gerade richtig gehört? Meinte er das ernst?

»Sie würden mich wirklich einstellen?«, fragte sie.

Er nickte. »So wie ich das sehe, verfügst du über ein großes Potential, das genutzt werden will.«

Sie wollte sich unbedingt darüber freuen, aber ihre Sorge überwog noch ein wenig: »Sie machen sich gerade nicht lustig über mich, oder?«

Schockiert schüttelte er mit dem Kopf. »Natürlich nicht. So etwas käme mir nie in den Sinn.«

Im Grunde machte er diesen Eindruck auch überhaupt nicht, also musste sie sich keine Sorgen machen. Auch wenn ihr das tatsächlich nicht leicht fiel. Sie atmete tief durch, nickte sich selbst noch einmal zu und sah den Professor dann entschlossen an. »In diesem Fall möchte ich gern Ihre Assistentin werden.«

Geradezu kindliche Begeisterung übernahm seine Mimik, als er die Arme ausbreitete. »Dann heiße ich dich herzlich in meinem Team willkommen! Wir werden bestimmt viele aufregende Gespräche führen. Ich kann dir auch meine aktuellen Notizen zeigen, vielleicht fällt dir dazu auch noch etwas ein und ...«

Plötzlich verstummte er wieder und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. »Vielleicht sollte ich dich im Vorfeld aber warnen, dass ich schon seit einigen Jahren in einer Sackgasse stecke. Natürlich hoffe ich, diese endlich überwinden zu können, aber du solltest das wissen, bevor du dich entscheidest.«

War er deswegen so deprimiert? Sie fragte lieber nicht – nur für den Fall, dass es doch einen privateren Grund dafür gab – und lächelte ihn stattdessen an. »Meine Entscheidung bleibt. Ich möchte auf jeden Fall bei Ihnen arbeiten. Nur dafür bin ich nach Illumina City gekommen.«

»Wundervoll«, sagte der Professor seufzend. »Das sollten wir auf jeden Fall bei einem Kaffee feiern.«

Schwungvoll hob er seine Tasse, was sie ihm weniger enthusiastisch, aber dennoch glücklich, nachahmte. Sein Lächeln wurde plötzlich derart sanft, dass ihr Herz wieder schneller schlug. Und es wurde nicht besser, als er dann noch etwas hinzufügte: »Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit, Julie.«
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kerstin-san
2024-04-29T15:22:52+00:00 29.04.2024 17:22
Hallo,
 
ach wie herzig. Mir tat Platan ja etwas leid, als ein Großteil der Cafékundschaft den Laden räumt, nachdem er anfängt seine Geschichte zu erzählen. Das muss furchtbar verletzend sein, gerade weil er genau weiß, dass es seinetwegen ist und trotzdem hat er noch den Biss, seine Geschichte weiterzuerzählen. Die Geschichte gefiel mir übrigens gut und wenn er nicht jedes Mal die selbe zum Besten gibt, verstehe ich echt nicht, warum die ganzen Leute so genervt waren.
Na ja, mir gings da dann eher wie Julie, ich war total neugierig, wie es weitergeht :)
 
Julies Gedankengänge fand ich sehr nachvollziehbar und dass sie sich anfangs nicht traut ihre Bewerbungsunterlagen abzugeben, weil sie sich für nicht gut genug hält und an sich zweifelt, hat sie mir sehr sympathisch gemacht. Wer kennt es nicht, dass man mal Angst vor der eigenen Courage hat und mit sich hadert? Gott sei Dank ist sie in das Café gegangen, weil sie so am Ende doch noch die Assistentenstelle ergattert hat :)
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  Flordelis
30.04.2024 01:04
Danke für deinen Kommentar. =D
Ich freue mich total, dass Julie nachvollziehbar und sympathisch scheint, manchmal mache ich mir bei ihr Sorgen, dass ich ein wenig übers Ziel hinausschieße mit ihr. ^^;

Laut einem NPC im Spiel ist es wohl Platans "Ding", in Cafés zu gehen und dort Wildfremden irgendwelche Geschichten über Pokémon zu erzählen. Zu seinem Pech waren an diesem Tag fast nur Leute im Café, die von dieser Eigenart genervt sind und er hatte ohnehin schon einen schlechten Tag, da kam alles zusammen und hat ihn deprimiert. Gibt bestimmt auch bessere Tage für ihn. :,D
... Ab sofort kann er Julie immer alle Geschichten erzählen, dann hat er nicht mehr das Bedürfnis, das ganze Café zu unterhalten. ^^

LG


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